Dies Domini – 12. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
„Was sollen die Leute bloß denken?“ – wer kennt ihn nicht, diesen Satz, den besorgte Eltern ihrem frühreifen Nachwuchs entgegenhielten, wenn das an den Tag gelegte Verhalten nicht ganz den Vorstellungen der Erziehungsberechtigten entsprach. Die unfassbare Masse der „Leute“ übte damit die Funktion aus, die – jahreszeitlich bedingt – der Nikolaus, das Christkind oder auch der Osterhase übernahmen, in meteorologischen Varianten aber auch der „liebe“ Gott persönlich, der im Donner eines Gewitters gar nicht lieb zu schimpfen vermochte. Immer aber wussten diese anderen über einen besser Bescheid, als man selbst. Sie stellten so aber nicht nur die eigene Selbstwahrnehmung radikal in Frage; letztlich torpedierten sie auch die Autorität der Eltern, waren sie doch offensichtlich stärker als jene älteren Verwandten ersten Grades, mussten (und müssen) sich diese doch der Macht jener bedienen, um die eigenen Vorstellungen weniger durch die Kraft der Argumente, sondern die Macht drohender Peinlichkeit und Scham des Gesichtsverlustes durchzusetzen.
„Was sollen die Leute bloß denken?“ – zweifelsohne eine Frage mit Potential, wenn auch mit nicht positiver Valenz. Dabei hatten die Leute in der Vergangenheit meist ein Gesicht. Es waren oft die unmittelbaren Nachbarn, die gemeint waren. Sie hatten Namen und Gestalt. Es waren Menschen, die im alltäglichen Umgang gar nicht so machtvoll erschienen, wie es in der elterlichen Frage suggeriert wurde. Hatten nicht manche von ihnen eigenen Marotten und verhielten sich skurril? Interessierten diese Leute sich für das, was man selbst über sie dachte? Und was passierte, wenn diese Leute – ja was eigentlich – dachten?
Fragen über Fragen, die in meist jugendlichem Alter in die Antwort mündeten (und hoffentlich immer noch münden): Es ist egal, was die Leute denken! Die Frage an sich wird als hilfloser Erziehungsversuch demaskiert – ebenso wie der Nikolaus, das Christkind, der Osterhase und ein schimpfender „lieber“ Gott, der sich dann doch eher als zweifellos energiereiche, aber letztlich doch natürliche Folgeerscheinung einer zweifelsohne energiereichen elektromagnetischen Entladung zwischen zwei zueinander in konträrer elektrostatischer Spannung stehenden Polen erweist.
Im digitalen Zeitalter sind die Leute zunehmend gesichtsloser geworden. Im Unterschied zu früher denken die Leute heute lauter. In Kommentaren in den sogenannten sozialen Medien, in Tweets und Postings lassen sie ihren Gedanken freien Lauf – und legen dabei nur allzu oft Zeugnis vom eigenen Unvermögen zu Denken ab. Die menschliche Kritik- und Gafflust bringt es dabei mit sich, dass die negativen Gedanken rein quantitativ die Oberhand zu haben scheinen. Es gaffen ja in der Regel mehr Leute bei Unfällen, als bereit sind, erste Hilfe zu leisten. Und überhaupt: Ist nicht geschimpft schon genug gelobt? In jedem Fall scheinen die Kommentarspalten, Tweets und Postings die schlimmsten Befürchtungen von Vätern und Müttern zu bestätigen: Die Leute denken nichts Gutes über einen!
Die kindliche Urangst vor den Leuten findet in den sogenannten „sozialen Medien“, die sich oft genug als nicht wirklich sozial erweisen, eine unheimliche Bestätigung: Man sollte sich vor den Leuten hüten!
Nach der Meinung der Leute zu fragen, scheint da nachgerade absurd zu sein. Und doch ist es genau diese Frage, die Jesus am Beginn des Evangeliums vom 12. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C stellt:
„Für wen halten mich die Leute?“ Lukas 9,18
Der hier mit „Leute“ übersetzte Begriff ὄχλος (gesprochen: óchlos) meint wörtlich die gesichtslose Volksmenge. Das „gesunde Volksempfinden“ ist genauso gesichtslos, mitunter aber auch menschenverachtend. Und doch fragt Jesus genau nach dem, für wen die Leute in der Menge ihn halten.
Die Frage an sich ist bemerkenswert – allein schon wegen der proaktiven Weise, in der Jesus fragt. Er reagiert nicht auf den Vorwurf, wofür die Leute ihn halten sollen. Er stellt die Frage selbst: „Für wen halten mich die Leute?“ Allein durch diese Proaktion nimmt er der Frage die vermeintliche Drohung. Er strebt danach, die Meinung der Leute offenzulegen und sie wahrzunehmen. Nur so kann die gesichtslose Meinungsmacht der Leute ihrer numinosen und nebulösen Macht beraubt werden. Und tatsächlich – das, was die Leute über Jesus denken, kommt in der Antwort seiner Jünger auf den Tisch:
„Einige für Johannes den Täufer, andere für Elíja; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden.“ Lukas 9,19
Das alles sind Zuschreibungen, die alles andere als negativ sind. Die Haltung der Leute Jesus gegenüber ist positiv. Diese positive Dimension konnte erst durch die proaktive Frage Jesu offenbar werden. Das Gerücht über das, was auch immer die Leute denken könnten, hat sich in der Konkretion verflüchtigt. Die Nebel sind einer Klarheit gewichen. Und mit dieser Klarheit kann man umgehen – selbst wenn die Ansichten der Leute negativ gewesen wären (und sie werden es im Leben Jesu werden …). Mit allem, was konkret ist, kann man umgehen. Was nebulös ist, bleibt hingegen schemenhaft, dringt wie feuchter, modriger Dunst in die Ritzen der Seelen ein und entfaltet dort eine zersetzende Kraft, die sie nur hat, weil die Konkretion vermieden wird.
Jesus aber ist noch nicht am Ende mit seinen Fragen. Er weiß jetzt, was die Leute von ihm denken. Was aber denken seine engsten Gefährten?
„Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Lukas 9,20a
Die Antwort des Petrus, der stellvertretend für die anderen antwortet, scheint so einfach:
„Für den Christus Gottes.“ Lukas 9,20b
Was hier als klare Ansage daherkommt, scheint doch noch nicht verstanden und reif für die Welt zu sein. Deshalb verbietet Jesus den Seinen, davon vor anderen zu sprechen. Sie haben etwas Wahres erkannt – aber noch nicht in seiner ganzen Dimension, denn
„der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet und am dritten Tage auferweckt werden.“ Lukas 9,22
Das Christus-Sein Jesu – sein Messiastum – ist kein triumphaler Aspekt. Niemand wird ihm später zujubeln. Genau darin teilt er das Schicksal der Propheten. Die Ansicht der Leute war also nicht so verkehrt – im Gegenteil: Das Schicksal der Propheten steht auch Jesus bevor. Als „Christus Gottes“ aber, als der Messias des Herrn, steht er in einer noch ganz anderen Qualität in der Einheit mit Gott. Diese Offenbarung aber wird erst in seiner Auferstehung geschehen. Was auch immer die Jünger unter „Christus Gottes“ verstehen – die volle Dimension dieses Bekenntnisses dürfte ihnen ebenso wenig klar gewesen sein, wie die ganz persönlichen Folgen für sie selbst:
„Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.“ Lukas 9,23f
Lukas ist hier in seiner Darstellung der Überlieferung gnädiger als Matthäus, der in der Parallelerzählung Petrus Jesus tadeln lässt, worauf dieser Petrus als Satan zurückweist (vgl. Matthäus 16,21-23). All das spielt bei Lukas keine Rolle. Bei ihm markiert die Erzählung einen Übergang. Es folgen Weisungen an die Jünger, an seinen Worten festzuhalten, sodann die Verklärung auf dem Tabor. Danach bricht die Gemeinschaft nach Jerusalem auf, wo sich der irdische Weg Jesu am Kreuz vollenden und in seiner Auferstehung ein neuer Aufbruch für die Jünger wirksam werden wird. In Jerusalem werden es wieder „die Leute“ sein, die das Urteil über ihn fällen werden; und auch für die Jünger selbst werden es immer wieder „die Leute“ sein, die sie anklagen, vor Gerichte zerren und verurteilen werden. Es werden aber auch immer „Leute“ sein, die ihnen zuhören und durch ihre Verkündigung Jesus nachfolgen. Was auch immer „die Leute“ denken mögen – wirksam wird es erst, wenn man die Leute selbst fragt, was sie denken! Dann kann man hören und mit dem Gehörten – sei es für einen negativ, sei es positiv – umgehen. Vielleicht läge darin ein erster Schritt für die Verantwortlichen in der Kirche der Gegenwart: Die Leute fragen, was sie denken, anstatt zu glauben, man wüsste schon, wie die Leute ticken. Meist wird Letzteres dann doch viel zu negativ eingeschätzt – ein Irrtum, dem schon viele Eltern erliegen. Fragt sie einfach, die Leute. Vielleicht ist die Überraschung größer als man erwartet, wenn man feststellt, dass die Leute eigentlich schon auf einem guten Weg sind …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.